Sachsen unterliegt 1796 gegen Napoleon – und 1813 gemeinsam mit ihm bei der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig. Drei Fünftel des Landbesitzes und fast die Hälfte der Bevölkerung fallen den Kriegen zum Opfer. Zudem setzt die Aufhebung der Kontinentalsperre das Land wirtschaftlich unter Druck. Im folgenden Jahrzehnt überschwemmen englische Waren aus industrieller Produktion den Markt. Der Staat vergibt Darlehen an Unternehmer – und die setzen ihren Erfindergeist ein, um wieder neue Maßstäbe zu setzen.
In dieser Zeit zwischen Niederlage und Neuanfang wird 1815 Ferdinand Adolph Lange (1815–1875) geboren. Er wird, nach der Trennung seiner Eltern, von einer befreundeten Kaufmannsfamilie aufgezogen. Diese ermöglicht ihm den Besuch der „Technischen Bildungsanstalt“ in Dresden und damit eine Ausbildung, wie sie damals gewöhnlich nur einem Ingenieur oder Techniker zuteil wird. Parallel zu seiner Schulausbildung geht Ferdinand Adolph Lange in die Lehre bei dem renommierten Uhrmachermeister Johann Christian Friedrich Gutkaes, der schnell dessen uhrmacherisches Talent erkennt und fördert.
Die Fünf-Minuten-Uhr für die Semperoper
Als der Architekt Gottfried Semper das später nach ihm benannte Dresdner Opernhaus errichtet, soll auf Wunsch des Königs auch eine große Uhr für den Zuschauerraum eingebaut werden. Er stört sich daran, dass in anderen Theatern während der Aufführungen immer wieder Taschenuhren mit Schlagwerk „anklingen“, wenn jemand wissen will, wie spät es ist; schließlich ist der Saal, wie auch heute noch, abgedunkelt.
Den Auftrag für die Konstruktion dieser Publikumsuhr erhält Johann Christian Friedrich Gutkaes. Um die Ablesbarkeit auch von entfernten Plätzen zu gewährleisten, soll die Zeit hoch über der Bühne über zwei sich drehende Walzen digital angezeigt werden. Jede Stunde sowie alle fünf Minuten dreht sich die Uhr weiter. Gutkaes stellt das technische Wunderwerk in seinen Werkstätten zusammen mit seinen Schülern her – unter ihnen ist Ferdinand Adolph Lange. Obgleich die Semperoper seit ihrer Eröffnung zweimal zerstört und wiederaufgebaut wird: Die Fünf-Minuten-Uhr zeigt den Zuschauern bis heute die Zeit an.
Ferdinand Adolph Lange reist und kehrt zurück
Ferdinand Adolph Lange zeichnet sich während seiner Lehre bei Gutkaes durch handwerkliches Geschick, Fleiß und Intelligenz aus. Er beendet seine Lehre mit Auszeichnung bevor er 1837 nach Frankreich reist, dem damaligen Zentrum der Präzisionsuhrmacherei. Er arbeitet in der Nähe von Paris bei dem österreichischen Uhrmacher Joseph Thaddäus Winnerl (1799–1886), der Schüler Abraham Louis Breguets war und eine führende Uhrenwerkstatt betreibt. Ferdinand Adolph Lange ist als Werkführer tätig und studiert nebenbei Astronomie und Physik an der Pariser Universität Sorbonne – vor allem aber verfeinert er bei den berühmten Pariser Lehrmeistern seine Fähigkeiten als Uhrmacher.
„Vergessen Sie nicht Ihr Vaterland!“, hat Gutkaes seinem Lehrling ins Wanderbuch geschrieben: „Es wird Sie wieder mit offenen Armen empfangen, wenn Sie eines Tages reich an Erfahrungen zurückkehren und sich der Kunst würdig erwiesen haben, die Sie so sehr bereichern können.“ Ferdinand Adolph Lange kommt (wohl 1841) tatsächlich wieder nach Dresden, wo Gutkaes’ Tochter Antonia auf ihn wartet. Ferdinand und Antonia heiraten 1842, als er auch den Meisterbrief entgegennimmt. Im selben Jahr wird sein Schwiegervater zum Hofuhrmacher befördert und bekommt eine Wohnung im Schlossturm.
Das Skizzen- und Wanderbuch mit all den Tabellen, Konstruktionszeichnungen, Mechanismen und Berechnungen zeigt, wie wissbegierig und akribisch Ferdinand Adolph Lange den Fragestellungen der Zeitmessung auf den Grund geht. Er konstruiert Uhrenteile, besonders Zahnräder, deren Maße bis dahin üblicherweise in „Pariser Linien“ angegeben wurden (1 Pariser Linie entspricht 2,2558 Millimetern). Alle Maßangaben rechnet er in das wesentlich praxistauglichere metrische System um – zur damaligen Zeit ein Novum. Kein Wunder also, dass Ferdinand Adolph Lange als Teilhaber im Geschäft seines Lehrherrn und Schwiegervaters Gutkaes innerhalb kurzer Zeit große Erfolge erzielt – uhrmacherisch wie wirtschaftlich. Sein unternehmerischer Ehrgeiz spornt ihn an, ebenso wie sein soziales Gewissen und sein bürgerliches Pflichtgefühl. Er beginnt, für einen damals kühnen Plan zu kämpfen: Er will seine eigene Uhrenmanufaktur im Erzgebirge aufbauen – und damit ein Gegengewicht zu den Zentren der Feinuhrmacherei in England und der Schweiz installieren.
Die Eisenbahn und das neue Zeitempfinden
Die Eisenbahn, 1839 auch zwischen Dresden und Leipzig eingerichtet, ist für die Menschen der damaligen Zeit eine große Neuerung. Das Fortbewegungsmittel verändert nicht nur die Kultur des Reisens, sondern zudem die Wahrnehmung der Zeit. Was vorher in einer Kutsche von „Dienstagvormittag“ bis „Mittwochabend“ dauern konnte, wird nun eine viel genauere Sache. Doch für Fahrpläne braucht man vor allem präzisere Zeitmesser.
Mit der Lokomotive „Adler“ beginnt 1835 zwischen Nürnberg und Fürth das Eisenbahnzeitalter in Deutschland – doch sie ist in England gebaut worden. Die erste deutsche Dampflokomotive wird kurz danach in Übigau bei Dresden hergestellt. Stolz trägt sie ihre Heimat im Namen: Saxonia. Bei der Eröffnung der privaten Strecke nach Leipzig soll die Saxonia 1839 selbstverständlich vorausfahren. Doch die Engländer, Pioniere und bis dahin auch Monopolisten des Eisenbahnbaus, setzen sich durch: Zwei englische Loks dampfen zuerst über die Gleise. Den Erfolg der Saxonia kann das nicht verhindern: Bis 1856 ist sie im Einsatz. Heute existiert ein voll funktionsfähiger Nachbau.
Mit dem Erfolg der Eisenbahn wächst der Bedarf an präzisen Zeitmessern. Die Gestaltung vieler Taschenuhren wiederum orientiert sich an der Eisenbahn: Die Minuteneinteilung auf dem Zifferblatt, die sogenannte Minuterie, nimmt das Bild eines Schienenstrangs auf – somit folgt der Zeiger gleichsam dem Rhythmus der Schwellen. Heute zeigt die Lange-Uhrenfamilie 1815 dieses und einige weitere Stilelemente klassischer Taschenuhren wie die Dreiviertelplatine, gebläute Schrauben und verschraubte Goldchatons.
1815
Strukturförderung
Zielstrebig und mit viel Überzeugungskraft schreibt der noch nicht einmal 30-jährige Uhrmachermeister Ferdinand Adolph Lange ab 1843 immer wieder an die sächsische Regierung – und wirbt für seine Idee: „… die Begründung eines neuen Erwerbszweigs für die armen Bewohner des Erzgebirges“. Er rechnet alles gründlich durch: In einer Aufstellung formuliert er das neue Geschäftsmodell, gibt den Investitionsbedarf an, ermittelt die Ertragsaussichten. 1845 stimmt das Königlich Sächsische Ministerium des Innern dieser Form von Strukturförderung schließlich zu: Für die Anstellung und Ausbildung von 15 Uhrmacherlehrlingen im verarmten Glashütte erhält Ferdinand Adolph Lange einen Zuschuss von 5.580 Talern, rückzahlbar von 1848 bis 1854 in sieben Raten – und zusätzlich 1.120 Taler für die Anschaffung von Werkzeugen.
Ferdinand Adolph Lange siedelt nach Glashütte um, am 7. Dezember begrüßt er seine ersten Lehrlinge mit einem feierlichen Gottesdienst in den eigenen Werkstätten. Das Sprichwort „Aller Anfang ist schwer“ gilt allerdings auch hier: Das Anlernen der jungen Leute aus der Region ist mühsamer als gedacht, die Uhrenproduktion läuft zunächst viel zu langsam an. Um die ersten mühsamen Jahre zu überstehen, steckt Ferdinand Adolph Lange buchstäblich alles, was er besitzt, in sein junges Unternehmen – und nimmt darüber hinaus hohe Schulden auf. Die Hoffnung auf den Erfolg gibt er nie auf – und die Zeit gibt ihm Recht.
Durch seine Reisen und dank seiner Erfahrungen in den Gutkaes’schen Werkstätten weiß er genau, was er in seiner eigenen Manufaktur anders machen will als bisher – und warum. In unterschiedlichen Bereichen leistet Ferdinand Adolph Lange Pionierarbeit und revolutioniert die Feinuhrmacherei.
Konstruktion, Präzision, Fertigung
Eine besondere Stellung nimmt unter den zahlreichen Verbesserungen, an denen Ferdinand Adolph Lange unermüdlich tüftelt, die Entwicklung der charakteristischen Dreiviertelplatine ein – sie ist bis heute eines der wichtigsten traditionellen Elemente bei A. Lange & Söhne. Alle Achsen des Räderwerks können nun in einem allseitig stabilen Verbund gelagert werden. Ferdinand Adolph Lange ist zudem der erste Uhrmacher Europas, der in seinen Werkstätten das metrische System einführt. Die Ausrichtung auf die Grundeinheit des Millimeters ermöglicht einfachere Umrechnungen. In mühsamer Millimeterarbeit überträgt er die Maße des Uhrwerks aus dem alten Pariser Maßsystem in das metrische System. Er ist damit seiner Zeit voraus: Erst 1858 führt die sächsische Regierung offiziell den Meter ein.
Um höchste Qualität gleichbleibend reproduzierbar zu machen, organisiert Ferdinand Adolph Lange den Manufakturprozess neu – vor allem, indem er das Prinzip der Arbeitsteilung einführt. Jeder Uhrmacher spezialisiert sich und ist fortan für einen bestimmten Arbeitsschritt verantwortlich, was die Fehlerquote deutlich senkt. Außerdem optimiert Ferdinand Adolph Lange die Werkzeugausstattung, zum Beispiel durch mit dem Fuß anzutreibende „Drehstühle“. Mit ihnen lassen sich die kreisrunden Teile wie Stifte, Triebe, Räder oder Scheiben in eine rund laufende, kontinuierliche Drehbewegung versetzen – was die feine und präzise Bearbeitung erleichtert.
„Ein rechter Mann adelt sich selbst“
Ferdinand Adolph Lange ist mehr als ein Uhrenpionier. Er bringt Ausbildung und Arbeit, neue Perspektiven und schließlich wieder Wohlstand ins Erzgebirge; und er übernimmt Verantwortung fürs Gemeinwohl. Ab 1848 engagiert er sich 18 Jahre ehrenamtlich als Bürgermeister von Glashütte – und lässt den Ort rund um die von ihm etablierte Uhrenindustrie als lebenswerte, gepflegte Kleinstadt aufblühen. Danach wird er in den sächsischen Landtag gewählt. Glashütte macht ihn zum Ehrenbürger und richtet eine „Lange-Stiftung“ zur Altersversorgung von Uhrmachern ein. Doch als der König von Sachsen ihn in Anerkennung so großer Verdienste in den Adelsstand erheben will, lehnt Ferdinand Adolph Lange so bescheiden wie entschieden ab: „Ein rechter Mann adelt sich selbst!“ Ferdinand Adolph Lange stirbt, gerade 60-jährig, am 3. Dezember 1875 – kurz vor dem 30. Jubiläum seiner Unternehmensgründung.
Ein Bild für den Zaren
Das einzige Foto, das von Ferdinand Adolph Lange existiert, ist dem russischen Zarenhaus zu verdanken. Die Begeisterung über Ferdinand Adolph Langes komplikationsreiche Taschenuhren mit Schlagwerk ist so groß, dass man sich mit einer wertvollen Anstecknadel und einem Dankschreiben beim Uhrmachermeister erkenntlich zeigt und ihn nach St. Petersburg einlädt. Da Ferdinand Adolph Lange nicht für so lange Zeit reisen und auf keinen Fall seine Arbeit vernachlässigen will, lässt er ein Porträt von sich und der auf einem Seidenschal angesteckten Brillantnadel machen und sendet diese Fotografie an das Zarenhaus. Ein Abzug ist in Glashütte erhalten geblieben – vom einzigen Bild von Ferdinand Adolph Lange.
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